Warum es so wertvoll ist, Menschen mit Demenz anzuhören

Dass wir uns für Menschen mit Demenz nicht nur einsetzen, sondern sie auch anhören, sie zu Wort kommen lassen sollen, vernahm ich zunächst als Aufforderung. Durch das Erleben, was sie zu sagen haben, wurde aber diese Botschaft zu meiner eigenen Überzeugung.

Durch Anschauung, durch Erleben, lernen wir viel mehr als durch Belehrung. Wenn ein Mensch mit Demenz das Wort ergreift, erleben wir oft, dass eine diagnostizierte Demenz die Urteils- und Ausdrucksfähigkeit noch keineswegs vermindert hat. Sie kann noch jahrelang bemerkenswert stark bleiben, auch wenn andere Funktionen wie z.B. die Orientierungsfähigkeit abnehmen. Und Anspruch auf Respekt vor ihrem Willen haben Menschen mit Demenz bis ans Ende ihres Lebens, auch wenn sie ihn nicht mehr verbal ausdrücken können. .

Was habe ich von Menschen mit Demenz auf diesem Weg lernen können?

Zuerst fällt mir eine Frau ein, die um ihre Leistungsfähigkeit kämpfen will: Entlastet mich nicht zu früh! Anerkennt mein Recht und gebt mir die Chance, so lange wie möglich einen Beitrag an die Gemeinschaft zu leisten!

Von andern hören wir, wie sie die Diagnose und die Zeit unmittelbar danach erlitten. Wie sie damit allein gelassen wurden: Sei es mit ihren Nächsten allein, oder ganz allein. Sie weisen uns auf einen der wichtigsten Ansatzpunkte für unsere Bemühungen hin: Mit der Demenzdiagnose darf niemand allein gelassen werden.

Menschen mit Demenz können ungeduldig sein, sogar über die wissenschaftliche Forschung: Am Jubiläumsanlass der Schweizerischen Alzheimervereinigung 2013 in Thun sagte ein Mitglied einer Gruppe junger Menschen mit Demenz auf der Bühne, die „chercheurs“ (Forscher, Sucher) sollten endlich „trouveurs“ (Finder) werden: Eine kraftvolle Aufforderung, einerseits sicherlich mehr in die Erforschung der Demenzkrankheiten, andererseits aber auch in die Entwicklung hilfreicher Entlastungs- und Betreuungsangebote zu investieren.

Menschen mit Demenz konfrontieren uns mit der Härte ihrer Lebenslage und mit ihren Erwartungen. Wir brauchen das, um unserer Verantwortung gerecht zu werden: Als Mitmenschen, als Gesellschaft, als Demokratie.

Mit grossem Respekt und Dankbarkeit denke ich an einen ehemaligen Rektor der Universität Zürich, der es gemeinsam mit seiner Gattin zuliess, den Weg mit seiner Demenz in einem Fernsehfilm zu dokumentieren: Was für ein wertvoller Beitrag zur Entstigmatisierung und zur Ermutigung! Auch der beeindruckende Dokumentarfilm eines Sohnes über seine an Demenz erkrankte Mutter („Vergiss mein nicht!“) oder die Verfilmung des einfühlsamen Buches von Arno Geiger („Der alte König in seinem Exil“) sind realistische und gerade dadurch eindrückliche Beispiele eines Alltags im Leben von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Menschen wie sie, die bereit sind ihre Leben mit der Erkrankung in aller (negativen wie positiven) Klarheit auch öffentlich zu machen,  gibt es immer mehr. Tragen wir dazu bei, dass sie uns ihre Botschaft überbringen können. Und vor allem : Hören wir ihnen zu!

Von Besserwissern und Hinguckern

Beim Thema assistierter Suizid und insbesondere im Kontext Demenz sprechen wir wie meist in solchen Diskussionen ÜBER die Betroffenen, aber selten MIT ihnen – gerade auch bei diesem Thema nicht. Eine an Demenz erkrankte Person kann am Anfang ihrer Erkrankung sehr klar Auskunft geben, was sie möchte – oder eben auch nicht. Je weiter die Erkrankung fortschreitet, desto schwierig wird es… Aber was wird schwierig? Vor allem erst einmal eines: sie zu verstehen! Schwierig heisst aber noch lange nicht unmöglich. Wenn wir in andere Länder reisen, wissen wir auch, dass wir mit unserer Sprache nicht zurecht kommen, und müssen entweder die Fremdsprache lernen oder uns mit Händen und Füssen verständigen. Was meist sogar sehr gut funktioniert. Das gleiche gilt auch für Menschen mit Demenz in einem fortgeschritteneren Stadium der Erkrankung, wenn es nicht mehr nur um gesprochene Worte, sondern um Gesten und Mimik geht. Diese drücken jeweils ihre  momentanen und in der jeweiligen Situation relevanten Gefühlsäusserungen aus. Sie geben uns relativ klar Auskunft darüber, wie es ihnen geht und was sie wollen oder eben auch nicht. Es bedingt, dass wir uns die Mühe machen und die Zeit nehmen, sie zu „lesen“. Wenn wir, die wir im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte sind, in der Lage sind, diese Gefühlsäusserungen zu verstehen, dann können wir das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz deutlich günstig beeinflussen und dazu beitragen, dass ihr Leben unabhängig von der Erkrankung lebenswert ist – eine Sichtweise, für die wir als Nicht-Betroffene und damit Aussenstehende Nachhilfe benötigen!